Interview – «Was ist liberale Theologie?»

Im Vorfeld zu ihrer Mitwirkung im Abendgottesdienst vom 23. April hat uns Pfarrerin Cornelia Camichel Bromeis einige Fragen beantwortet.


Cornelia Camichel Bromeis, wie erläutern Sie einem Laien, was er sich unter «liberaler Theologie» vorstellen muss?

Für mich ist es vor allem eine Frage der Haltung. Eine Haltung der Offenheit, die mich in jedem Gegenüber Leben sehen lässt, das wie ich leben will. Eine Offenheit, die mir hilft, Differenzen in vielen Lebensbereichen auszuhalten. Und mir die Kraft gibt, die Stirn zu bieten, sobald diese Offenheit ausgenutzt oder unterdrückt zu werden droht, meine Offenheit, genauso wie die von andern. Der Begriff geht auf einen Aufbruch protestantischer Strömungen im 19. Jahrhundert zurück, die sich um eine Vermittlung zwischen Moderne und Christentum bemüht haben. Es geht um ein gutes Leben für alle, ohne die individuelle Freiheit zu übersehen.


Können Sie mir ein konkretes Beispiel aus dem Kirchenalltag nennen?

Ich nehme jeden Menschen, der mit seinem Anliegen zu mir kommt, gleich ernst. Gerade bei Bittstellenden an der Pfarrhaustür kann ich das gut umsetzen: Sie als Menschen ernst zu nehmen bedeutet da, sich auf sie einzulassen – und ihnen das zu geben, was sie wollen und brauchen, und sie nicht mit einer kleinen Geldspende abzuspeisen. Das herauszufinden braucht Zeit, Gesprächszeit. Und manchmal auch Zeit, zu erklären, warum etwas geht oder eben nicht geht. Viele lassen sich auf diese Gespräche ein – und kommen wieder…  Genauso ist es bei Hochzeiten, Abdankungen, Taufen. Ich kann auf die Wünsche und die Sprache der Menschen eingehen, ohne dass ich dabei auf etwas verzichten muss, was mir wichtig ist. Wer Mühe bekundet mit einem Unser-Vater-Gebet darf dies sagen – und wir finden eine stimmige Variante.


Haben Sie diese Haltung immer schon vertreten, oder hat sie sich im Laufe Ihrer Pfarrtätigkeit entwickelt?

Ich bin in einem kleinen katholischen Dorf aufgewachsen, als eine der wenigen Reformierten. Diese Minderheitensituation hat mich geprägt, ebenso die Rituale der Messe. Liturgie ist für mich wichtig. Reformierte Liturgie zur Predigt. Diese ist nicht dogmatisch und klerikal. Sie stellt den Menschen ins Zentrum mit seinen Fragen nach Gott, nach Transzendenz, nach Spiritualität.  Ein solches Menschenbild beansprucht viel Zeit im Pfarramt. Eine vorgefertigte Liturgie oder eine einfache Einteilung der Menschen in «dazugehörig» oder «nicht Mitglied» wäre da oft einfacher… Doch empfinde ich dies als die richtige Haltung, Menschen und Gott zu begegnen: in einer gewissen Demut, die nicht beansprucht schon im Vornherein zu wissen, wo und wie Gott zu begegnen ist, sondern dies im Miteinander herausfindet.


Angesichts von vielen Austritten aus den christlichen Kirchen: Inwieweit ist nicht gerade eine liberale Haltung der Kirchen verantwortlich für diese Austritte?

Ich kann eine Kritik der «Beliebigkeit» an der liberalen Theologie nachvollziehen. Dann nämlich, wenn liberale Theologie auf Grund der (zu) grossen Offenheit keine Position mehr bezieht für das (Selbstbestimmungs-) Recht von einzelnen oder Minderheiten, für die Notwendigkeit einer Institution, sondern sich an den vorherrschenden (Macht-) Verhältnissen ausrichtet und darin aufgeht.

Wenn liberale Theologie es aber schafft zu differenzieren in heutiger Zeit, wo oftmals schwarz-weiss und interessegeleitet gedacht und gehandelt wird, wird sie als notwendig erkannt. Liberale Theologie hat für mich ein Verständnis von Kirche, das nicht im Gegenüber zur Welt steht, sondern mit den Menschen und allen Kreaturen mitten in dieser Welt steht, versöhnt miteinander umzugehen sucht und auf Zukunft hin lebt.

Interview: Robin Ziltener


Cornelia Camichel Bromeis
Die heutige Pfarrerin an der Kirche St. Peter in Zürich, war Primarlehrerin, dann Pfarrerin in Chur und Davos. Sie gehörte gleichzeitig 13 Jahre lang dem Kirchenrat an und war sieben Jahre Dekanin der Bündner Pfarrsynode. Cornelia Camichel Bromeis ist verheiratet und Mutter von drei Kindern in Ausbildung.

Abendgottesdienst «Über Gott und die Welt», So, 23. April, 18.00 Uhr, ref. Kirche Kilchberg

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